Mittwoch, 8. März 2017

"Zuverlässig, belastbar, schüttelfest. Und der Akku ist niemals leer."

Wir lassen uns anfeuern wie Soldaten im Krieg
- Unsere moderne Arbeitsgesellschaft ist von tiefer Unmoral erfüllt

Ich habe als Arbeitsberater und Dozent in der Erwachsenenbildung viele Jahre Berufs- und Lebensberatung für hunderte von Mitmenschen geleistet, dabei die letzten eineinhalb Jahre besonders intensiv Beratung rund um beruflichen Perspektivwechsel und berufliche Neuorientierung. Und das geht ja für den einzelnen fast immer auch einher mit einer Neuorientierung im Leben insgesamt. Und gerade in den letzten eineinhalb Jahren habe ich (wie meine Kollegen) dafür vielfältige positive Rückmeldungen von unseren Teilnehmern erfahren, auch viel Dankbarkeit. Solche Rückmeldungen erhielten wir - sogar!, sogar! - von Mitarbeitern der Agentur für Arbeit, denen wir zuarbeiteten. Und doch habe ich selbst mir dabei immer verboten, auf die Ratschläge zu hören, die ich anderen so freimütig und wohlwollend zu geben bereit war. Ob das nicht eine sehr typische Erscheinung ist in den vielen "helfenden Berufen" in der heutigen Zeit?

Ja, als ich im Rahmen dieser Berufs- und Lebensberatung einen für uns neuen und - wie ich inzwischen finde - recht passablen, brauchbaren Online-Berufsorientierungstest einsetzte (Gepedu) und ihn dazu zunächst einmal auch an mir selbst ausprobierte und als dieser für mich ganz andere Berufsfelder als passend vorgeschlagen hat, als ich ausübte und ausübe, und ganz andere Berufs- und Lebensmotive für mich aufgezeigt hat, als ich sie in meiner derzeitigen beruflichen Tätigkeit erfüllen kann, hatte ich diesen Berufsorientierungstest zunächst in die Ecke gepfeffert. Dieser Test ist "ganz ungeeignet" und "unbrauchbar" war zunächst mein Urteil.

So sehr hatte ich die Erwartungen an mich verinnerlicht, die "der Arbeitsmarkt" an mich stellt und auf die ich reagierte. So sehr war ich geneigt, nicht auf mich selbst zu hören und meine eigenen Bedürfnisse (die mir ja letztlich doch auch schon vorher bekannt waren). Und warum nicht? Weil ich mich darauf trainiert hatte, mich anzupassen an das, was eben dieser - - - "Arbeitsmarkt" von mir verlangt an - - -"Flexibilität" (!) und Anpassungsbereitschaft. Damit ich - sogar als Akademiker, wenn auch außerhalb der Universität - eine Familie mit drei Kindern einigermaßen anständig und unabhängig von staatlicher Unterstützung durchbringen kann.

Erst einige Wochen nachdem ich das Testergebnis in die Ecke geworfen hatte, wurde mir bewusst, dass der Stress, den ich mir auf meiner Arbeit mache und den ich empfinde - insbesondere nach Arbeitsschluss und am Wochenende, in Zeiten, die zumal in den  letzten Wochen durchgehend durch ausgeprägte Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Müdigkeit geprägt gewesen sind -, tatsächlich etwas mit dem zu tun hat, was in dem Ergebnisbericht des genannten Berufsorientierungstests für Berufserfahrene für mich aufgezeigt worden war. Dass mir nämlich - vor allem - viele anderen beruflichen Ziele und Motive wichtiger sind als ausgerechnet: "mit anderen Menschen zusammenarbeiten" und als ausgerechnet "anderen Menschen helfen" (s. Abb. 1).

Abb. 1: Aus dem Ergebnisbericht meines Berufswahltests (bei der Firma Gepedu, 6.1.2016)
Während ich bezüglich dieser letzteren beruflichen Motive weit unter dem Durchschnitt derjenigen meiner Vergleichsgruppe liege (alle Menschen, die bislang an dem Test teilgenommen haben, meiner Altersgruppe angehören und ebenfalls Abitur haben) liege ich stattdessen weit über dem Durchschnitt was das berufliche Motiv "Erfolge erzielen, Besonderes leisten" betrifft. Sollte ich dann nicht doch irgendwann einmal auf solche Testergebnisse auch hören? So wie ich das auch anderen immer angeraten habe? Zumal mir doch auch ein Psychiater in der Sprechstunde schon vor Jahren mit einer mir bis dahin nicht bekannten psychologischen Begrifflichkeit sagte "Sie haben ein sehr hohes Ich-Ideal, lassen Sie es bleiben." Nämlich als ich zu ihm gegangen war wegen meiner Probleme bei der Ausübung des Berufes eines Gymnasiallehrers und als ich - eigentlich - mit ihm Lösungsmöglichkeiten bezüglich dieser Probleme besprechen wollte. - - -

Leben. Ach ja: Leben.

"Du bist mehr als ein Berg voll Arbeit."


Und wie steht es mit der ausgewogenen "Work-Life-Balance", die ich so oft in meinen Beratungsgruppen und in Einzelgesprächen zum Thema gemacht hatte und anderen Menschen angeraten hatte, bzw. auf die diese vielen Menschen natürlich auch leicht von selbst zu sprechen kommen aufgrund ihrer eigenen "Ausgepowertheit", ihrer eigenen, oft außerordentlich stark ausgeprägten inneren und äußeren Erschöpfung? 

Abb. 2: Am Montag, den 16.1.2017 um 7.36 Uhr, auf dem Weg zur Arbeit aufgenommen
Warum zum Beispiel sprach mich erst vor allerhand Wochen dieses Plakat aus der Lidl-Werbung so sehr an, dass ich es sogar fotografierte. Nämlich auf dem Weg zu meiner Arbeit an einem Montag im Januar dieses Jahres. "Du bist mehr als ein Berg voll Arbeit". Und warum übrigens wird eine solche oder eine ähnliche Botschaft so selten in großer Plakatform in unserer Gesellschaft an die Menschen herangetragen? Ist nicht auch letzterer Befund ein recht - "interessanter"? Was erwartet man in dieser Gesellschaft von uns? Oder welche Erwartungen transportieren die "großen Leitmedien" an die Menschen in dieser Gesellschaft?

Die Frage stellt sich doch: Werden wir - - - "dressiert" - ?

"Feierabend - Warum man für seinen Job nicht brennen muss"


Und warum sprach mich an, als ich im neuesten Programmheft der "Urania" in Berlin einen Vortrag angekündigt fand von einem Volker Kitz mit dem Titel "Feierabend - Warum man für seinen Job nicht brennen muss"? Und wo es in der Kurzbeschreibung desselben heißt (Urania):
Nur wer leidenschaftlich arbeitet, liefert gute Ergebnisse und wird glücklich - das ist gesellschaftlicher Konsens. Doch Millionen Menschen im Büro, am Fließband und hinter Verkaufstheken verspüren keine Leidenschaft bei ihrer Tätigkeit. Wo sind die „spannenden Herausforderungen“, von denen alle reden? Stimmt ohne sie womöglich etwas nicht mit dem eigenen Leben? Volker Kitz erklärt, warum wir besser und zufriedener arbeiten, wenn wir ehrlich mit uns und unserer Arbeit umgehen. Denn nicht die Arbeit macht unglücklich, sondern die Lügen, die wir uns darüber erzählen.
Und schon beim Lesen dieses kurzen Textes fielen mir gleich ganz neue Varianten und Versionen von Job-Bewerbungs-Anschreiben ein, als ich sie bis dahin meinen Teilnehmern angeraten hatte (im Einklang mit den vielen Bewerbungsratgebern). Etwa:
Meine Leidenschaft bringe ich - wenn dann - zu Hause ein. Nicht im Beruf. Aber Sie dürfen von mir erwarten, dass ich meinen Job auch ohne ein solches "Brennen" zuverlässig und ordentlich ausübe.
Ach ja! Wie atmet man auf, allein schon wenn diese Unehrlichkeit einmal von uns genommen ist?

Abb. 3: "Zuverlässig, belastbar, schüttelfest. Und der Akku ist niemals leer."
In diesem Werbeplakat spielt der Apple-Online-Händler "Gravis"
Oder: Wie empört reagierte ich im ersten Augenblick, als ich schon vor etwa einem Jahr in der Stadt ein Werbeplakat las mit dem Slogan
Zuverlässig, belastbar, schüttelfest. Und der Akku ist niemals leer.
und daneben eine Frau, so als ob hier eine Zeitarbeitsfirma um Pflegefachkräfte werben würde. Bis mir - natürlich erst durch Recherche - klar wurde, dass dieses Plakat ironisch gemeint war ... Der Apple-Online-Händler "Gravis" hatte sich einen - wie ich finde: üblen - Scherz mit der tiefen Unmoral unserer Arbeitsgesellschaft erlaubt. Er spielt hier mit Gefühlen. Aber warum hat man so viele, so stark gemischte Gefühle bei einer solchen Art von Ironie? Zumindest jemand wie ich, der hunderte von Menschen beraten hat, die auch an sich selbst die von anderen an sie herangetragene Erwartung erfüllt sehen wollten, nämlich "zuverlässig, belastbar, schüttelfest" zu sein. Um so mehr man diese Worte auf sich wirken lässt, um so tiefer - ja, um so zutiefst unmoralisch - kommen sie einem vor.

Worte wie im Krieg


Und wer über solche Worte noch "Witze reißen" kann, hat nur wenig begriffen. Nur sehr wenig. Auch wenn der Firmengründer einmal Steve Jobs geheißen haben mag.

Wir leben nicht - und noch nicht einmal vorwiegend - um insbesondere "zuverlässig, belastbar, schüttelfest" zu sein, wobei der "Akku" "niemals leer" wäre oder sein sollte. Sind das nicht Worte wie im Krieg? Als wäre von den Anforderungen an Soldaten die Rede. Arbeitssoldaten ........

Und indem ich diesen Blogartikel schreibe, wird mir bewusst, dass auch der bisherige Titel dieses Blogs - "Rein ins Berufsleben" - und die URL ("los-gehts") eigentlich zu überdenken sind. Sind nicht auch sie der Verinnerlichung von außen einem übergestülpter Moral geschuldet? Klingen sie letztlich nicht wie "Auf in den Kampf, Kameraden der Arbeit" - ? Ich habe deshalb den Blogtitel und die URL gerade neutraler umformuliert. Und einmal erneut wird mir bewusst: Es ist vieles im Argen und faul. Und nicht nur im Staate Dänemark. In dem vielleicht sogar noch am allerwenigsten.

Und das "cetereum censeo" lautet: 1. Wann endlich gibt es in diesem Staat jenen anständigen, schon in den 1950er Jahren und im Familienbericht der Bundesrepublik Deutschland von 1994 erneut von den führenden deutschen Sozialreformern vorgesehenen und befürworteten, jedoch von allen bisherigen CDU- und SPD-Regierungen torpedierten Familienlastenausgleich? Und 2.: Wann wird endlich das längst fällige, von allen bisherigen CDU- und SPD-Regierungen torpedierte bedingungslose Grundeinkommen beschlossen? Zwei wesentliche Maßnahmen, die die Menschen und Familien von heute aus der - offensichtlich für sie vorgesehenen - Hamsterrad-Hetzerei herauslösen würden und ihnen Zeit lassen würden zu einer inneren Besinnung und zu jener seelischen Ausgeglichenheit, die die bisher Herrschenden offensichtlich mehr fürchten als der Teufel das Weihwasser.

Und somit ist einmal erneut an das viel zitierte Wort von Willy Brand zu erinnern:
Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht dazu da ist, den Menschen das Leben etwas leichter zu machen.
Und zu ergänzen ist auch dazu: Selbst Willy Brandt ist heute veraltet. "Etwas leichter" reicht schon lange nicht mehr.